Zieht das Beschwerdegericht in einer Unterbringungssache für seine Entscheidung mit einem neuen oder ergänzenden Sachverständigengutachten eine neue Tatsachengrundlage heran, die nach der amtsgerichtlichen Anhörung datiert, so ist eine erneute Anhörung des Betroffenen geboten[1].

Nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor einer Unterbringungsmaßnahme persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Diese Vorschrift sichert im Unterbringungsverfahren nicht nur den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör. Durch sie soll auch sichergestellt werden, dass sich das Gericht vor der Entscheidung über den mit einer Unterbringung verbundenen erheblichen Grundrechtseingriff einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen verschafft, durch den es insbesondere in die Lage versetzt wird, ein eingeholtes Sachverständigengutachten würdigen zu können[2].
Die Anhörungspflichten nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG gelten gemäß § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Unterbringungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. Zieht das Beschwerdegericht für seine Entscheidung mit einem neuen oder ergänzenden Sachverständigengutachten eine neue Tatsachengrundlage heran, die nach der amtsgerichtlichen Entscheidung datiert, so sind von einer erneuten Anhörung des Betroffenen regelmäßig neue Erkenntnisse zu erwarten, und es ist eine Wiederholung der Anhörung im Beschwerdeverfahren geboten[3].
Gemessen daran durfte das Beschwerdegericht von einer erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen nicht absehen. Es hat seine Entscheidung maßgeblich auf das von ihm eingeholte Gutachten des Sachverständigen B. vom 01.10.2020 gestützt. Die Untersuchung des Betroffenen durch den Sachverständigen B. erfolgte zu einem Zeitpunkt, als wie das Gutachten konzediert in der internistischen und psychiatrischen Situation des Betroffenen durch die Unterbringung bereits „Fortschritte“ erzielt worden seien. Auch aus diesem Grund konnte der von der Berichterstatterin bei der ersten Anhörung am 6.08.2020 gewonnene Eindruck von dem Betroffenen keine ausreichende Grundlage mehr dafür darstellen, das zeitlich nachfolgende Gutachten des Sachverständigen B. kritisch nachvollziehen und würdigen zu können.
Der Betroffene ist durch die Genehmigung der Unterbringungsmaßnahme in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt worden. Die Feststellung, dass ein Betroffener durch angefochtene Entscheidungen in seinen Rechten verletzt ist, kann nicht nur auf der Verletzung materiellen Rechts, sondern grundsätzlich auch auf einer Verletzung des Verfahrensrechts beruhen. Das Unterbleiben einer verfahrensordnungsgemäßen persönlichen Anhörung des Betroffenen stellt einen Verfahrensmangel dar, der derart schwer wiegt, dass der genehmigten Unterbringungsmaßnahme insgesamt der Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung anhaftet[4].
Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse des Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der hier durch Zeitablauf erledigten Genehmigung der Unterbringung feststellen zu lassen, liegt vor. Die gerichtliche Anordnung oder Genehmigung einer freiheitsentziehenden Maßnahme bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff im Sinne von § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG[5].
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12. Mai 2021 – XII ZB 109/21
- im Anschluss an BGH, Beschluss vom 07.12.2016 – XII ZB 32/16 FamRZ 2017, 477[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 07.12.2016 – XII ZB 32/16 FamRZ 2017, 477 Rn. 5[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 07.12.2016 – XII ZB 32/16 FamRZ 2017, 477 Rn. 6 mwN[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 07.12.2016 – XII ZB 32/16 FamRZ 2017, 477 Rn. 9 ff. mwN[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 02.12.2020 – XII ZB 291/20 FamRZ 2021, 462 Rn. 21 mwN[↩]