Das Sachverständigengutachten im Betreuungsverfahren – und die Anhörung des Betroffenen

Vor der Bestellung eines Betreuers hat das Gericht gemäß § 278 Abs. 1 FamFG den Betroffenen persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen.

Das Sachverständigengutachten im Betreuungsverfahren – und die Anhörung des Betroffenen

Die Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch im Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. Danach darf das Beschwerdegericht nicht von einer Anhörung des Betroffenen absehen, wenn die vom Amtsgericht durchgeführte Anhörung verfahrensfehlerhaft war.

Wird der Betroffene vor dem Amtsgericht angehört, ohne dass ihm zuvor das Sachverständigengutachten in ausreichender Weise bekanntgegeben wurde, leidet diese Anhörung an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Denn die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Entscheidungsgrundlage erfordert nach § 37 Abs. 2 FamFG, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Dies erfordert nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der der Gesetzgeber durch die Neufassung des § 278 Abs. 2 Satz 1 FamFG durch das Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts vom 04.05.2021[1] Rechnung getragen hat, dass der Betroffene vor der Entscheidung im Besitz des vollständigen Gutachtens ist und ausreichend Zeit hatte, von dessen Inhalt Kenntnis zu nehmen und sich zu äußern. Holt das Gericht nach Eingang eines schriftlichen Sachverständigengutachtens eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen ein, die inhaltlich über das bereits vorliegende Gutachten hinausgeht, ist es verfahrensfehlerhaft, wenn dem Betroffenen vor der persönlichen Anhörung allein das erste Sachverständigengutachten übermittelt wird. Denn dadurch wird dem Betroffenen hinsichtlich der ergänzenden Ausführungen des Sachverständigen jede Möglichkeit genommen, sich auf den Anhörungstermin ausreichend vorzubereiten und durch die Erhebung von Einwendungen und durch Vorhalte an den Sachverständigen eine andere Einschätzung zu erreichen[2].

So lagen die Dinge in dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall: Das Amtsgericht hat zwar vor der persönlichen Anhörung des Betroffenen dessen Verfahrensbevollmächtigten das Sachverständigengutachten vom 24.05.2023 übersandt. Dass auch die ergänzende  Stellungnahme des Sachverständigen vom 17.07.2023 zu der Frage, ab wann von der Geschäftsunfähigkeit des Betroffenen auszugehen ist, dem Betroffenen oder dessen Verfahrensbevollmächtigten übermittelt worden wäre, ist hingegen weder festgestellt noch sonst ersichtlich.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 9. Oktober 2024 – XII ZB 289/24

  1. BGBl – I S. 882[]
  2. vgl. BGH, Beschluss vom 22.09.2021 – XII ZB 146/21 , FamRZ 2022, 56 Rn. 8 f. mwN[]