§ 10 des Strafrechtsbezogenen Unterbringungsgesetzes NRW (StrUG NRW) enthält keine eigenständige Rechtsgrundlage für ärztliche Zwangsmaßnahmen bei Personen, die nach § 126 a StPO in einer Maßregelvollzugsanstalt des Landes Nordrhein-Westfalen einstweilig untergebracht sind. Vielmehr findet in diesen Fällen § 1832 BGB Anwendung. Dem Leiter der Maßregelvollzugseinrichtung steht bei einer beabsichtigten ärztlichen Zwangsmaßnahme bei einer nach § 126 a StPO untergebrachten Person kein eigenes Antragsrecht auf gerichtliche Genehmigung zu.

Soweit nach den Maßregelvollzugsgesetzen der Länder eine Maßnahme – wie hier nach § 10 Abs. 5 iVm Abs. 10 StrUG NRW – der vorherigen gerichtlichen Genehmigung bedarf, richtet sich das gerichtliche Verfahren gemäß §§ 126 a Abs. 2 Satz 1, 126 Abs. 5 Satz 3 StPO iVm § 121 b Abs. 1 Satz 1 StVollzG nach dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Die für Unterbringungssachen nach § 312 Nr. 4 FamFG anzuwendenden Bestimmungen gelten entsprechend.
Bei einstweilig nach § 126 a StPO untergebrachten Personen sind ärztliche Zwangsmaßnahmen gemäß § 10 Abs. 10 StrUG NRW nur unter den Voraussetzungen des § 1832 BGB möglich, weshalb dem Leiter der Maßregelvollzugseinrichtung in diesen Fällen kein eigenes Antragsrecht auf gerichtliche Genehmigung einer beabsichtigten ärztlichen Zwangsmaßnahme zusteht. Bei § 10 Abs. 10 StrUG NRW handelt es sich nicht um eine eigenständige Rechtsgrundlage für ärztliche Zwangsmaßnahmen bei Personen, die nach § 126 a StPO in einer Maßregelvollzugsanstalt einstweilig untergebracht sind. Vielmehr nimmt die Bestimmung diesen Personenkreis aus dem Anwendungsbereich von § 10 Abs. 1 bis 9 StrUG NRW heraus und stellt fest, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen während der vorläufigen Unterbringung nur nach § 1832 BGB zulässig sind.
Dafür spricht bereits der Wortlaut des § 10 Abs. 10 StrUG NRW, wonach „für eine ärztliche Zwangsmaßnahme bei Personen, die gemäß § 126 a der Strafprozeßordnung vorläufig, gemäß § 81 der Strafprozeßordnung zur Vorbereitung eines Gutachtens oder gemäß § 73 des Jugendgerichtsgesetzes zur Beobachtung untergebracht sind, (…) § 1832 des Bürgerlichen Gesetzbuches“ gilt. Zu Recht führt das Landgericht Paderborn[1] hierzu aus, dass die Verwendung des Wortes „gilt“ auf eine uneingeschränkte Verweisung auf die zivilrechtlichen Bestimmungen über die Zulässigkeit ärztlicher Zwangsmaßnahmen schließen lässt. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde enthält der Gesetzestext des § 10 Abs. 10 StrUG NRW keine einschränkenden Zusätze, die darauf hindeuten könnten, dass § 1832 BGB nur ergänzend neben die in § 10 Abs. 1 bis 9 StrUG enthaltenen Regelungen treten soll.
Die Systematik des Gesetzes stützt diese am Wortlaut orientierte Auslegung.
Nach § 1 Abs. 3 StrUG NRW gelten die Bestimmungen dieses Gesetzes unter anderem entsprechend für den Vollzug der einstweiligen Unterbringung nach § 126 a StPO, soweit sich aus Bundesrecht oder aus dem Gesetz zur Durchführung strafrechtsbezogener Unterbringungen in einem psychiatrischen Krankenhaus und einer Entziehungsanstalt in Nordrhein-Westfalen selbst nichts Abweichendes ergibt und Zweck und Eigenart des Verfahrens nicht entgegenstehen. Die Einbeziehung dieser Art der Unterbringung, die keine Maßregel der Besserung und Sicherung, in den Anwendungsbereich dieses Gesetzes beruht auf der Erwägung des Gesetzgebers, dass es sich hierbei wie in den Fällen des § 63 StGB um eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus handelt. Dabei war dem Gesetzgeber bewusst, dass bei den Regelungen, die die einstweilige Unterbringung nach § 126 a StPO betreffen, vorrangig die bundesrechtlichen Vorschriften zu beachten sind und der Zweck der einstweiligen Unterbringung in den Blick zu nehmen ist[2]. § 10 Abs. 10 StrUG NRW stellt eine abweichende Regelung iSv § 1 Abs. 3 StrUG NRW dar. Während § 10 Abs. 1 StrUG NRW die Rechtsgrundlage für ärztliche Zwangsmaßnahmen bei den nach § 1 Abs. 1 und 2 StrUG NRW vom Anwendungsbereich erfassten Personen beinhaltet und in den Absätzen 2 bis 9 die Voraussetzungen hierfür geregelt sind, enthält § 10 Abs. 10 StrUG NRW eine spezielle Regelung für ärztliche Zwangsmaßnahmen bei Personen, die gemäß § 126 a StPO einstweilig, gemäß § 81 StPO zur Vorbereitung eines Gutachtens oder gemäß § 73 JGG zur Beobachtung untergebracht sind. Dabei verweist § 10 Abs. 10 StrUG NRW weder auf die vorstehenden Absätze der Vorschrift noch knüpft er in irgendeiner Weise an diesen an. Gerade weil eine solche Verweisung oder Anknüpfung fehlt, deutet die Stellung als letzter Absatz des § 10 StrUG NRW darauf hin, dass es sich um eine zu den vorstehenden Absätzen vorrangige Spezialnorm handelt, die eine Anwendung des § 10 Abs. 1 bis 9 StrUG NRW bei einstweilig gemäß § 126 a StPO untergebrachten Personen ausschließt.
Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen ebenfalls für dieses Auslegungsergebnis.
Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB verfolgt zwei Ziele: Zum einen dient sie dem Schutz der Allgemeinheit vor auch in Zukunft gefährlichen Straftätern unabhängig vom Strafvollzug. Zum anderen soll der Betroffene in der Zeit der Unterbringung erfolgreich behandelt werden[3]. § 2 StrUG NRW greift den letztgenannten Zweck dieser Maßregel der Besserung und Sicherung auf und definiert in § 2 Abs. 3 Satz 1 StrUG NRW als Ziel der Unterbringung nach § 63 StGB, dass, soweit möglich, die untergebrachte Person geheilt werden oder durch Behandlung und Betreuung einen Zustand erreichen soll, in dem von ihr keine weiteren erheblichen rechtswidrigen Taten mehr zu erwarten sind. Anders verhält es sich bei Personen, die gemäß § 126 a StPO nur einstweilig untergebracht sind. Hier dient die Unterbringung dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren erheblichen rechtswidrigen Taten eines Schuldunfähigen oder vermindert Schuldfähigen; sie ist lediglich der Vorläufer einer Unterbringung nach den §§ 63, 64 StGB[4]. Anders als bei der Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB (vgl. § 2 Abs. 3 StrUG NRW) ist die Herstellung der Entlassfähigkeit des Betroffenen durch Behandlung bei der einstweiligen Unterbringung kein Vollzugsziel. Daher ist eine medizinische Behandlung der Anlasserkrankung für vorläufig untergebrachte Personen grundsätzlich nicht vorgesehen. Diesen unterschiedlichen Vollzugszielen tragen die Regelungen in § 10 StrUG NRW konsequent Rechnung. Während § 10 Abs. 1 bis 9 StrUG NRW die ärztlichen Zwangsmaßnahmen im Maßregelvollzug nach § 63 StGB regelt, verweist § 10 Abs. 10 StrUG NRW auf § 1832 BGB und stellt damit klar, dass bei nach § 126 a StPO einstweilig untergebrachten Personen ärztliche Zwangsmaßnahmen nur unter den dort maßgeblichen Voraussetzungen möglich sind.
Schließlich sind auch den Gesetzesmaterialien deutliche Hinweise darauf zu entnehmen, dass sich bei einstweilig nach § 126 a StPO untergebrachten Personen die Voraussetzungen ärztlicher Zwangsmaßnahmen allein nach § 1832 BGB (§ 1906 a BGB in der bis zum 31.12.2022 geltenden Fassung) bestimmen sollen. So heißt es im Gesetzesentwurf der Landesregierung vom 31.01.2021 in der Begründung zu § 10 StrUG NRW, dass bei den nach § 126 a StPO untergebrachten Personen der Sicherungszweck im Vordergrund stehe und ärztliche Zwangsmaßnahmen daher nur unter den Voraussetzungen des § 1906 a des Bürgerlichen Gesetzbuches zulässig seien. An anderer Stelle führt die Gesetzesbegründung aus, Absatz 10 trage den Besonderheiten der Rechtsnatur einer vorläufigen Unterbringung Rechnung. Die Zulässigkeit und Durchführung ärztlicher Zwangsmaßnahmen richte sich daher nach § 1906 a BGB (jetzt: § 1832 BGB). Selbstverständlich sei es aber zulässig, dass der untergebrachten Person ein Angebot zur freiwilligen Behandlung gemacht werde[5]. Diese Ausführungen lassen auf die Absicht des Gesetzgebers schließen, für einstweilig gemäß § 126 a StPO Untergebrachte keine maßregelvollzugsbehördlichen Zwangsbehandlungsmaßnahmen zuzulassen, sondern es bei den nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch zulässigen Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge zu belassen.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17. Juli 2024 – XII ZB 89/24








