Die Vorschrift des § 293 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 FamFG, nach der es in einem Verfahren über die Erweiterung einer Betreuung der Einholung eines Gutachtens oder ärztlichen Zeugnisses nicht bedarf, wenn diese Verfahrenshandlungen nicht länger als sechs Monate zurückliegen, ist in einem Verfahren über die Verlängerung einer Betreuung nach § 295 FamFG weder direkt noch entsprechend anwendbar.

Nach § 295 Abs. 1 Satz 1 iVm § 280 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat vor der Entscheidung über die Verlängerung einer Betreuung grundsätzlich eine (erneute) förmliche Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens über die Notwendigkeit der Maßnahme stattzufinden[1]. Nach § 295 Abs. 1 Satz 2 FamFG kann von der erneuten Einholung eines Gutachtens abgesehen werden, wenn sich aus der persönlichen Anhörung des Betroffenen und einem ärztlichen Zeugnis[2] ergibt, dass sich der Umfang der Betreuungsbedürftigkeit offensichtlich nicht verringert hat. Unterlässt das Erstgericht eine nach § 295 Abs. 1 FamFG zwingend gebotene Verfahrenshandlung, ist sie vom Landgericht Karlsruhe gemäß § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG nachzuholen[1].
Im vorliegenden Fall hat das Amtsgericht weder ein neues Gutachten noch ein ärztliches Zeugnis eingeholt. Deshalb hätte das Landgericht Karlsruhe dies nachholen und jedenfalls ein ärztliches Zeugnis über den Umfang der Betreuungsbedürftigkeit der Betroffenen einholen müssen, was es indessen neben der nicht erfolgten persönlichen Anhörung der Betroffenen nicht getan hat.
Entgegen der Ansicht des Landgerichts Kalrsruhe[3] kann in dem im Ausgangsverfahren eingeholten Gutachten nicht zugleich ein ärztliches Zeugnis iSv § 295 Abs. 1 Satz 2 FamFG gesehen werden. Denn das in einem Verlängerungsverfahren nach § 295 Abs. 1 Satz 2 FamFG erforderliche ärztliche Zeugnis soll dem Gericht gerade Gewissheit darüber verschaffen, ob die sachverständige Einschätzung, wie sie im vorangegangenen Verfahren im Gutachten abgegeben worden ist, noch zutreffend ist[4]. Das Gutachten des Vorverfahrens kann das ärztliche Zeugnis im Verlängerungsverfahren somit nicht ersetzen.
Unzutreffend ist auch die Ansicht des Landgerichts Kalrsruhe, vorliegend sei die Einholung eines neuen Gutachtens bzw. ärztlichen Zeugnisses „unter Beachtung des Rechtsgedankens“ des § 293 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 FamFG entbehrlich gewesen.
Nach dieser Vorschrift bedarf es in einem Verfahren der Erweiterung der Betreuung einer persönlichen Anhörung sowie der Einholung eines Gutachtens oder ärztlichen Zeugnisses nicht, wenn solche Verfahrenshandlungen nicht länger als sechs Monate zurückliegen[5]. Vorliegend wurde das im Ausgangsverfahren eingeholte Gutachten zwar erst am 29.08.2020 erstattet und lag somit zum Zeitpunkt der amtsgerichtlichen Entscheidung vom 14.01.2021 weniger als sechs Monate zurück. Allerdings gilt § 293 FamFG für die Erweiterung einer Betreuung[6]. Auf die Verlängerung einer Betreuung wie hier ist diese Vorschrift nicht anwendbar. Dies folgt aus dem eindeutigen Wortlaut des § 293 Abs. 1 FamFG[7] und der Gesetzessystematik, nach der die Erweiterung einer Betreuung einerseits und deren Verlängerung andererseits neben der Aufhebung bzw. Einschränkung einer Betreuung eigenständige Verfahrensgegenstände darstellen (§§ 293 bis 295 FamFG).
§ 293 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 FamFG ist auf die Verlängerung einer Betreuung auch nicht entsprechend anwendbar. Hierfür fehlt es bereits an der dafür erforderlichen planwidrigen Regelungslücke[8].
Die Vorschrift des § 293 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 FamFG geht auf § 69 i Abs. 1 FGG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts sowie weiterer Vorschriften vom 25.06.1998[9] zurück. Mit ihr sollte ausweislich der Gesetzesbegründung[10] vor allem der gerichtlichen Praxis entgegengewirkt werden, dass Aufgabenkreise nicht entsprechend dem Erforderlichkeitsgrundsatz eng gezogen, sondern gewissermaßen „auf Vorrat“ zugeschnitten wurden, um eine nochmalige persönliche Anhörung bei Erweiterungen in absehbarer Zeit zu vermeiden. Der Gesetzgeber wollte somit mit Blick auf den gebotenen engen Zuschnitt der Aufgabenkreise gezielt (nur) verfahrensrechtliche Erleichterungen für die zeitnahe Erweiterung einer Betreuung schaffen. Verfahrenserleichterungen für die seinerzeit in derselben Vorschrift unter Absatz 6 geregelte Verlängerung einer Betreuung waren vom Regelungsplan des Gesetzgebers damit nicht umfasst. Dafür spricht auch, dass die Erweiterung und Verlängerung einer Betreuung nachfolgend zur oben genannten Gesetzesänderung durch das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit vom 17.12.2008[11] in getrennten Vorschriften (§§ 293, 295 FamFG) geregelt worden sind, ohne dass die in Rede stehenden verfahrensrechtlichen Erleichterungen in § 295 FamFG übernommen worden wären. Dabei wurden weitere Verfahrenserleichterungen für die Verlängerung einer Betreuung in Erwägung gezogen, letztlich jedoch abgelehnt[12]. Dies unterstreicht die gesetzgeberische Intention, die unterschiedlichen Verfahrensgegenstände der Erweiterung und Verlängerung einer Betreuung bewusst mit unterschiedlichen (verfahrensrechtlichen) Voraussetzungen zu versehen[13].
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23. Februar 2022 – XII ZB 424/21
- vgl. BGH, Beschluss vom 19.01.2011 XII ZB 256/10 FamRZ 2011, 637 Rn. 10[↩][↩]
- vgl. dazu BGH, Beschluss vom 23.08.2017 XII ZB 187/17 FamRZ 2017, 1866 Rn. 9[↩]
- LG Karlsruhe, Beschluss vom 09.08.2021 – 11 T 56/21[↩]
- vgl. dazu MünchKomm- FamFG/Schmidt-Recla 3. Aufl. § 295 Rn. 2; Prütting/Helms/Fröschle FamFG 5. Aufl. § 295 Rn. 9[↩]
- vgl. dazu BGH, Beschluss vom 23.08.2017 XII ZB 187/17 FamRZ 2017, 1866 Rn. 12[↩]
- vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom 28.09.2016 XII ZB 227/16 FamRZ 2016, 2091 Rn. 9; und vom 16.05.2012 XII ZB 454/11 , FamRZ 2012, 1207 Rn.20[↩]
- „Erweiterung“[↩]
- vgl. dazu BGH, Urteil BGHZ 215, 236 = NZM 2017, 847 Rn. 27 ff.[↩]
- BGBl. I S. 1580[↩]
- BT-Drs. 13/7158 S. 39 f.[↩]
- BGBl. I S. 2586[↩]
- vgl. BT-Drs. 16/6308 S. 387, 420[↩]
- vgl. BT-Drs. 16/6308 S. 269 f.[↩]