Das dem Betroffenen im Unterbringungsverfahren verspätet bekanntgegebene Gutachten

Wurde in einer durch Zeitablauf erledigten Unterbringungssache das für die Entscheidung maßgebliche Gutachten dem Betroffenen nicht rechtzeitig vor seiner Anhörung bekannt gegeben, liegt eine Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf rechtliches Gehör vor[1]. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs kann nicht durch erneute Anhörung im Abhilfeverfahren geheilt werden, sondern nur dadurch, dass das Landgericht Hamburg eine eigene Anhörung durchführt[2].

Das dem Betroffenen im Unterbringungsverfahren verspätet bekanntgegebene Gutachten

In dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall leidet der 46jährige Betroffene an einer paranoiden Schizophrenie. Auf Antrag des Betreuers hat das Amtsgericht Hamburg-Bergedorf die medikamentöse Zwangsbehandlung des Betroffenen mit Flupentixoldecanoat und Diazepam bis längstens 1.10.2021 genehmigt[3]. Hierbei hat es sich auf ein Gutachten gestützt, das dem Betroffenen etwa 20 Minuten vor seiner Anhörung ausgehändigt worden war. Auf seine Beschwerde hat das Amtsgericht den Betroffenen im Abhilfeverfahren erneut angehört. Das Landgericht Hamburg hat die Beschwerde zurückgewiesen[4]. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat der Bundesgerichtshof festgestellt, dass die Beschlüsse des Amtsgerichts Hamburg-Bergedorf und des Landgerichts Hamburg, soweit es die darin genehmigte Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Zwangsmaßnahme betrifft, den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben:

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt die Verwertung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens als Grundlage einer Entscheidung in der Hauptsache gemäß § 37 Abs. 2 FamFG voraus, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Insoweit ist das Gutachten mit seinem vollen Wortlaut dem Betroffenen im Hinblick auf seine Verfahrensfähigkeit grundsätzlich rechtzeitig vor dem Anhörungstermin zu überlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern. Davon kann nur unter den Voraussetzungen des entsprechend anwendbaren § 325 Abs. 1 FamFG abgesehen werden. Wird das Gutachten dem Betroffenen nicht rechtzeitig ausgehändigt, verletzt das Verfahren ihn grundsätzlich in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 Satz 1 GG[5].

Diesen Anforderungen wird das Verfahren des Amtsgerichts nicht gerecht. Das Gutachten ist dem Betroffenen erst etwa 20 Minuten vor dem Termin ausgehändigt worden; zu Beginn der Anhörung war der Betroffene noch damit befasst, das Gutachten zu lesen. Dies genügt, ebenso wie eine Aushändigung erst in dem Anhörungstermin[6], nicht, um das rechtliche Gehör ausreichend zu gewährleisten.

Aus diesem Grund ist es auch verfahrensfehlerhaft, dass das Landgericht Hamburg von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abgesehen hat.

Nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor einer Unterbringungsmaßnahme persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Diese Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG auch in einem Unterbringungsverfahren dem Landgericht Hamburg die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch unter anderem voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist[7].

Gemessen daran durfte das Landgericht Hamburg im vorliegenden Fall nicht – wie geschehen – von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG absehen. Denn die Anhörung des Betroffenen durch das Amtsgericht litt an einem wesentlichen Verfahrensmangel, weil ihm das eingeholte Sachverständigengutachten nicht rechtzeitig vor dem Anhörungstermin am 20.08.2021 überlassen worden ist. Der Mangel konnte auch nicht durch erneute Anhörung im Abhilfeverfahren geheilt werden[8]. Vielmehr hätte das Landgericht Hamburg den Mangel durch eigene Anhörung beheben müssen.

Der Betroffene ist durch diese Verfahrensmängel in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt worden.

Die Feststellung, dass ein Betroffener durch die angefochtenen Entscheidungen in seinen Rechten verletzt ist, kann grundsätzlich auch auf einer Verletzung des Verfahrensrechts beruhen. Dabei ist die Feststellung nach § 62 FamFG jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn der Verfahrensfehler so gravierend ist, dass die Entscheidung den Makel eines rechtswidrigen Eingriffs in die grundrechtlich geschützte körperliche Integrität und in das Recht auf Selbstbestimmung des Betroffenen hinsichtlich seiner körperlichen Integrität hat, der durch Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist[9].

Das Unterbleiben einer verfahrensordnungsgemäßen persönlichen Anhörung des Betroffenen stellt einen Verfahrensmangel dar, der derart schwer wiegt, dass der genehmigten Unterbringungsmaßnahme insgesamt der Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung anhaftet. Die durch § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG angeordnete persönliche Anhörung gehört zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien, deren Verletzung die Feststellung nach § 62 FamFG rechtfertigt[10].

Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse des Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der – hier durch Zeitablauf erledigten – Genehmigung der Einwilligung in die ärztliche Zwangsmaßnahme und der unterbringungsähnlichen Maßnahmen feststellen zu lassen, liegt vor. Die gerichtliche Genehmigung der Einwilligung in eine Zwangsbehandlung bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff im Sinne des § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG[11].

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26. Januar 2022 – XII ZB 439/21

  1. im Anschluss an BGH, Beschluss vom 30.06.2021 – XII ZB 573/20 , FamRZ 2021, 1742[]
  2. im Anschluss an BGH, Beschluss vom 22.09.2021 – XII ZB 93/21 , FamRZ 2022, 135[]
  3. AG Hamburg-Bergedorf, Beschluss vom 20.08.2021 – 420 XVII 136/20[]
  4. LG Hamburg, Beschluss vom 10.09.2021 – 301 T 369/20 und 301 T 282/21[]
  5. vgl. BGH, Beschluss vom 30.06.2021 – XII ZB 573/20 , FamRZ 2021, 1742 Rn. 6 mwN[]
  6. vgl. Beschluss vom 02.12.2020 – XII ZB 291/20 , FamRZ 2021, 462 Rn. 11[]
  7. vgl. BGH, Beschluss vom 30.06.2021 – XII ZB 573/20 , FamRZ 2021, 1742 Rn. 10 mwN[]
  8. vgl. BGH, Beschluss vom 22.09.2021 – XII ZB 93/21 , FamRZ 2022, 135 Rn 14 ff.[]
  9. BGH, Beschluss vom 08.05.2019 – XII ZB 2/19 , FamRZ 2019, 1181 Rn. 18[]
  10. vgl. BGH, Beschluss vom 30.06.2021 – XII ZB 573/20 , FamRZ 2021, 1742 Rn. 15 mwN[]
  11. BGH, Beschluss vom 30.09.2020 – XII ZB 57/20 , FamRZ 2021, 230 Rn. 6 mwN[]