Anordnung eines Sachverständigengutachten im Betreuungsverfahren – und das rechtliche Gehör

Für das Gericht erwächst aus Art. 103 Abs. 1 GG die Pflicht, vor dem Erlass einer Entscheidung zu prüfen, ob dem Verfahrensbeteiligten rechtliches Gehör gewährt wurde[1].

Anordnung eines Sachverständigengutachten im Betreuungsverfahren – und das rechtliche Gehör

Maßgebend für diese Pflicht des Gerichts ist der Gedanke, dass der Verfahrensbeteiligte Gelegenheit haben muss, die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör fordert, dass das Gericht die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis nimmt und in Erwägung zieht[2].

In dem hier entschiedenen Fall genügte angegriffene Beschluss des Amtsgerichts Pinneberg[3] genügt diesen Voraussetzungen nicht:

Nach seinem Vortrag wurde der Beschwerdeführer vor Erlass des angegriffenen Beschlusses durch das Amtsgericht nicht angehört und konnte sich dementsprechend nicht äußern. Dies könnte das grundrechtsgleiche Recht des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG verletzen, zumal der angegriffene Beschluss keine besondere Dringlichkeit der beauftragten Begutachtung erkennen lässt. Eine Möglichkeit, auf diese Entscheidung des Gerichts vorab effektiv Einfluss zu nehmen, wäre dem Beschwerdeführer damit verwehrt worden. Die nachträgliche Information über den Erlass des angegriffenen Beschlusses ist nicht geeignet, den Gehörsverstoß zu heilen. Denn jedenfalls für den juristischen Laien geht aus dem Schreiben des Gerichts nicht hervor, dass eine Möglichkeit zur Stellungnahme noch vor der Untersuchung durch den Sachverständigen besteht. Zudem ist es dem Beschwerdeführer allein auf der Grundlage des Schreibens des Gerichts nicht möglich, zu der Einleitung eines Betreuungsverfahrens und der Beauftragung eines Sachverständigengutachtens substantiiert Stellung zu nehmen, da ihm die Gründe, die das Gericht zur Einleitung des Betreuungsverfahrens bewogen haben, nicht bekannt sind.

Eine vorherige Anhörung war hier auch nicht deshalb entbehrlich, weil in dem Beschluss noch keine zwangsweise Untersuchung und Vorführung des Beschwerdeführers angeordnet wurde. Denn aus dem Beschluss des Amtsgerichts ergibt sich nicht, dass die Mitwirkung an der Erstellung des Gutachtens für den Beschwerdeführer freiwillig ist. Ein rechtsunkundiger Bürger wird, wenn eine solche Beauftragung im Wege des Beschlusses erfolgt, davon ausgehen, dass er zur Mitwirkung bei der Untersuchung verpflichtet ist. Bei einer Verweigerung der freiwilligen Untersuchung muss der Betroffene zudem damit rechnen, aufgrund eines erneuten Beschlusses gemäß § 283 Abs. 1 FamFG zwangsweise vorgeführt und untersucht zu werden. Im Übrigen hat bereits die Beauftragung eines Gutachters zur Prüfung einer möglichen Betreuungsbedürftigkeit eine stigmatisierende Wirkung, wenn Dritte von ihr Kenntnis erlangen. Ein Rechtsmittel gegen die Beauftragung des Gutachters ist gemäß § 58 Abs. 2 FamFG jedenfalls nicht ausdrücklich vorgesehen. Insofern erhält die vor der Beauftragung zu erfolgende Anhörung des Betroffenen zum Schutz seiner Rechte besondere Bedeutung[4].

Die im Verfahren über den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderliche Folgenabwägung fällt zugunsten des Beschwerdeführers aus. Zwar ist der Beschwerdeführer derzeit nicht verpflichtet, an der Erstellung des Gutachtens durch den Sachverständigen mitzuwirken. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, so könnte bei einer Weigerung des Beschwerdeführers, sich begutachten zu lassen, gemäß § 283 Abs. 1, Abs. 2 FamFG aber die zwangsweise Vorführung zum Zwecke der Untersuchung angeordnet werden. Sollte die Vorführung und Untersuchung zum Zwecke der Begutachtung wiederum angeordnet werden, ohne dem Beschwerdeführer zuvor rechtliches Gehör zu gewähren, ist nicht auszuschließen, dass ein entsprechender Beschluss vollstreckt würde, bevor der Beschwerdeführer hiergegen − erneut − einstweiligen Rechtsschutz beantragen kann. Ein Abwarten, ob das Gericht die Untersuchung anordnet, ohne dem Beschwerdeführer zuvor rechtliches Gehör zu gewähren, kann dem Beschwerdeführer daher nicht zugemutet werden. Dagegen kann das Gericht die bislang unterbliebene Anhörung des Beschwerdeführers sowohl mündlich als auch schriftlich jederzeit nachholen, um dem Beschwerdeführer die Gründe für eine Einleitung des Betreuungsverfahrens und damit für die Beauftragung eines Sachverständigen mit der Erstellung eines Gutachtens mitzuteilen.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 22. März 2022 – 1 BvR 618/22

  1. BVerfGE 36, 85 <88>[]
  2. vgl. BVerfGE 83, 24 <35> 96, 205 <216> stRspr[]
  3. AG Pinneberg, Beschluss vom 07.02.2022 – 42 XVII 19503[]
  4. vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.12.2010 – 1 BvR 2157/10, Rn. 31; Beschluss vom 24.09.2021 – 1 BvQ 103/21, Rn. 13[]